Mona Lang
Praxis für Kinder- und Jugendlichentherapie
Geschichte Isolde
Depressionen
Isolde, 14 Jahre alt, Gymnasialschülerin, macht seit Wochen einen sehr unglücklichen Eindruck und ihre Schulleistungen sind unüblich schlecht geworden. Von einer aufmerksamen Lehrerin wird ihr ein Gespräch mit der in ihrer Schule als Schülerberaterin tätigen Psychologin vermittelt, was sie nach kurzem Zögern schließlich auch annimmt. Dort berichtet sie, dass sie sich in letzter Zeit oft elend fühle, dass ihr ständig zum Weinen zumute sei. Sie sei müde und erschöpft und habe eigentlich keine Kraft mehr, weder für die Erledigung ihrer schulischen Hausaufgaben noch für ihre Freizeitaktivitäten. Sogar bei einfachen Haushaltstätigkeiten fühle sie sich schon überfordert. Auch sei sie sehr einsam, habe keine Freundinnen, keinen Freund und überhaupt niemanden, mit dem sie über ihre Probleme reden könne. Sie habe auch keine Hoffnung, dass sich die Lage bessern könne, und denke manchmal, dass es für sie wohl besser sei, sie würde nicht mehr existieren.
Ihr Vater, angelernter Arbeiter, ist zurzeit arbeitslos. Ihm wurde nach mehreren längeren Krankenständen gekündigt. Die Mutter, ursprünglich Verkäuferin, arbeitet zurzeit als Pflegehelferin und ist erst vor kurzem wieder zu ihrer Familie zurückgekehrt. Im Zuge der Umschulung zu ihrem neuen Beruf war sie im Vorjahr zu einem Kollegen gezogen und hatte ihre Familie verlassen. Der Vater war daraufhin in eine schwere Depression gestürzt und musste für einige Zeit sogar stationär in der Nervenklinik behandelt werden, was seine Arbeitsunfähigkeit verursacht hatte. Während der Abwesenheit der Mutter hatte Isolde den Haushalt geführt und außerdem noch für ihre zwei Jahre jüngere Schwester gesorgt, die sie auch jetzt noch an den Nachmittagen versorgen muss. Die Schwester ist leicht geistig behindert und fällt durch extreme Wutanfälle und sowohl durch verbales, wie auch körperlich aggressives Verhalten auf.
Isolde berichtet, dass sie sich mit zunehmendem Alter der Schwester immer mehr vor ihr zu fürchten beginne, weil sie ihr nun körperlich kaum mehr gewachsen sei. Jedenfalls könne sie wegen ihrer Verpflichtungen am Nachmittag die Wohnung nicht verlassen. Freundinnen will sie unter den gegebenen Umständen nicht nach Hause mitnehmen, sie würden von der Schwester ohnehin nur gequält werden. Sowohl für den Vater wie auch für ihre Mutter ist Isolde die wichtigste Ansprechpartnerin bezüglich ihrer ehelichen Probleme. Daher fühlt sie sich auch für die Ehe ihrer Eltern in gewissem Maße mitverantwortlich. Für ihre behinderte Schwester meint sie ohnehin ein Leben lang verantwortlich zu sein und zu bleiben.
Aus: Rosner, Rita (Hrsg.) (2006): Psychotherapieführer Kinder und Jugendliche. Seelische Störungen und ihre Behandlung. Verlag C.H. Beck oHG.